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08.07.2022 / Sozialrecht

COVID-19-Krise erhöht weltweit Druck auf Sozialschutzsysteme

Die staatlichen Maßnahmen gegen das Coronavirus, insbesondere flächendeckende Lockdowns, haben die Mechanismen der Marktwirtschaft phasenweise außer Kraft gesetzt. Viele Menschen standen über Nacht unverschuldet ohne Arbeit und Einkommen da. Wie stark und erfolgreich das Sozialrecht dazu beigetragen hat, während der Pandemie Existenzen zu sichern, hat ein Forschungsteam um Prof. Ulrich Becker, Direktor am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik, untersucht. In Zusammenarbeit mit Rechtswissenschaftler/innen weltweit konnte die vergleichende Studie, die bereits im Frühjahr 2020 begonnen wurde, auf 21 Länder in fünf Kontinenten ausgeweitet werden, darunter neben Deutschland, Italien und Schweden auch China, Australien, Südafrika, Brasilien und Russland.

Mit dem Buch "Protecting Livelihoods - A Global Comparison of Social Law Responses to the COVID-19 Crisis", das als e-book kostenlos verfügbar ist, legt das Institut die erste systematische rechtliche Analyse der besonderen Sozialschutzdimension der Krisenreaktionen weltweit vor. Sie gibt Aufschluss darüber, ob und wie sich die während der Pandemie ergriffenen sozialrechtlichen Maßnahmen in die bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Systeme integrierten und welche besonderen Herausforderungen die Länder bei der Umsetzung ihrer Krisenreaktion zu bewältigen hatten. Die Studie geht zudem der Frage nach, wie das Verhältnis zwischen gesellschaftlicher und individueller Verantwortung während der Krise ausgehandelt wurde und ob aus den Erfahrungen der Pandemie langfristige Veränderungen für den Sozialstaat zu erwarten sind.

Trotz ihrer sehr unterschiedlichen Wohlfahrtssysteme reagierten die untersuchten Staaten mit ähnlichen, überwiegend aus Steuermitteln finanzierten Maßnahmen auf die Pandemie. Vor allem Lohnersatzleistungen und Kurzarbeit halfen, eine große Zahl an Arbeitsplätzen zu erhalten und die Einkommen der Beschäftigten zu stabilisieren. Unternehmen wurde mit zinsgünstigen Krediten, Kreditbürgschaften sowie einem Aufschub bei der Zahlung von Steuern, Sozialbeiträgen und Schulden unter die Arme gegriffen. 

In besonderem Maße bedrohten die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie die Existenz sogenannter atypischer Arbeitnehmer/innen, zu denen unter anderen Beschäftigte im informellen Sektor und Plattformarbeiter/innen zählen. Auch Selbständige fielen oft durch das soziale Netz. Vor allem Wohlfahrstaaten mit traditionellen Sozialversicherungssystemen wie Deutschland waren nicht gerüstet, sie in den bestehenden Regelungskreis adäquat zu integrieren.  Die vor diesem Hintergrund erforderlichen speziellen Unterstützungsleistungen für Selbständige durchbrachen die in der Marktwirtschaft dominante Logik der unternehmerischen Eigenverantwortung. An ihre Stelle trat kollektive Verantwortung und gesellschaftliche Solidarität. 

Eine Herausforderung stellte auch die Verteilung und Überprüfung der Zahlungen dar. Insofern die digitale Infrastruktur weniger gut ausgebaut ist, konnte dieser Vorgang länger dauern, so beispielsweise in Deutschland. In Südafrika, wo viele Menschen kein Bankkonto besitzen, lief die Verteilung der Unterstützungsleistungen teils konträr zum Pandemie-Management. Die Zahlungen wickelte die südafrikanische Post ab, was zu großen Menschenansammlungen vor dem Postamt führte.

In allen untersuchten Ländern wirkt die Pandemie wie ein Vergrößerungsglas, das die Stärken und Schwächen der Sozialschutzsysteme deutlich sichtbar macht – zumal die Reaktionen auf die Pandemie keine wesentlichen Veränderungen in den Strukturen hervorbrachten. Damit hat die Krise den Druck auf viele Staaten erhöht, ihre Sozialschutzsysteme zu reformieren, um gegenwärtigen und künftigen Anforderungen besser begegnen zu können.

Publikation:

Becker, Ulrich/Seemann, Anika (Hrsg.): Protecting Livelihoods – A Global Comparison of Social Law Responses to the COVID-19 Crisis, Nomos, Baden-Baden 2022

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