Wie Manna vom Himmel | Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik - MPISOC
Home
News

Latest news and press releases

01.06.2016 / Sozialpolitik (MEA) EN

Wie Manna vom Himmel

von Axel Börsch-Supan, erschienen in der FAZ am 27. Mai 2016

Höhere Renten für alle? Union und Sozialdemokraten locken mit neuen Versprechen und tun so, als spiele Geld keine Rolle. Doch die Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, sind vorbei. Die Demographie schafft auf Erden Fakten, und die Rechnung zahlt nicht der liebe Gott.

Statt aus Manna muss die Rente aus den Beiträgen und Steuern der jüngeren Generation finanziert werden. Wer in Zeiten des demographischen Wandels das Rentenniveau für alle Rentner stabilisieren will, gibt den Älteren sowie den durchschnittlich und besser Verdienenden Geschenke auf Kosten der Jüngeren und wenig Verdienenden. Ob das sozial ist, darüber werden die Matadore der beiden Parteien, die doch auf ihr „S“ im Kürzel stolz sein sollten, noch Rechenschaft ablegen müssen.
Aber der Reihe nach: Um die Jahrhundertwende 1999/2000 war es um die Rentenversicherung Deutschlands schlecht bestellt. Das Finanzierungsdefizit wuchs aufgrund der schlechten Beschäftigungslage, und Besserung war wegen des demographischen Wandels nicht in Sicht, im Gegenteil. Da Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten weit weniger Geburten hatte, als zur Bestandserhaltung nötig gewesen wären, fehlten zur Rentenfinanzierung ungefähr ein Drittel junger Menschen relativ zur Vorgeneration.
Die Vorhersage über die Anzahl der jungen Menschen, die in den nächsten 20 Jahren die Rente finanzieren muss, ist auch keine mit großer Unsicherheit behaftete Prognose, denn diese Menschen sind schon geboren. Daher gilt: Auch die demographische Entwicklung bis 2035 beruht weitgehend auf Fakten, an denen sich nichts mehr ändern lässt. Auch wenn die Sonne scheint, sieht man auf dem Radarschirm schon die Schlechtwetterfront - schlecht beraten sind die, die trotz Wetterbericht keinen Regenschirm mitnehmen. Im Übrigen wird der jüngste Ansturm junger Flüchtlinge das Geburtendefizit nur geringfügig verringern, weil selbst diese großen Migrantenströme im Vergleich zum Fehlen eines Drittels der jüngeren Generation klein sind.
Wegen des Umfangs der demographischen Herausforderung wäre es unklug, auf sie mit einer einzigen sozialpolitischen Gegenmaßnahme zu reagieren. Stattdessen braucht man ein Paket mehrerer Maßnahmen, das die vielen Betroffenen möglichst gleichmäßig belastet und die Gefahr der Altersarmut minimiert. Dieses Paket wurde zwischen 2001 und 2007 durch die Rentenreformen von einer breiten Allianz rot-grün-schwarzer Politiker geschaffen; es hat die Finanzierung der deutschen Altersvorsorge auf nachhaltige Füße gestellt und dazu beigetragen, die Beschäftigungslage so zu verbessern, dass Deutschland vom Land mit der roten Laterne zum EU-Mitgliedstaat mit der dynamischsten Beschäftigungsentwicklung wurde.

Das Paket besteht aus vier Elementen, die sich ergänzen und erst in ihrer Gesamtheit wirken. Kein einziges der vier Elemente erfreut sich großer Beliebtheit. Das ist kein Wunder, denn es gilt, den demographischen Mangel einigermaßen gerecht zu verwalten, also alle, die es können, an der demographischen Finanzierungslast zu beteiligen. Diese Last durch Manna vom Himmel scheinbar zu erleichtern, ist natürlich eine große Versuchung für Populisten; dazu später.

Element Nummer 1 ist der Nachhaltigkeitsfaktor, der die demographische Last gleichmäßig zwischen der älteren und der jüngeren Generation aufteilt, indem der Beitragssatz und das Rentenniveau um etwa den gleichen Prozentsatz steigen oder sinken, wenn die demographische Last zunimmt. Hier bestand die Weisheit darin, dass dies regelgebunden geschieht und damit den wechselnden Launen und wahlbedingten Panikattacken der Politiker entzogen ist.

Element Nummer 2 ist die graduelle Erhöhung des regulären Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre. Beachtenswert ist, dass diese Erhöhung um ein Jahr geringer ist als die erwartete Verlängerung der Rentenbezugszeit. Die Rente mit 67 bedeutet daher auch eine um ein Jahr verlängerte Rentenzeit. Die Weisheit hier war, die Proportionen des Lebens zu wahren. Gegenwärtig besteht ein Durchschnittsleben aus etwa 40 Jahren Arbeit und 20 Jahren Rentenbezug. Genauso muss ein zusätzliches Jahr Rente durch zwei Jahre Arbeit finanziert werden.

Element Nummer 3 ist die Riester-Rente. Auch deren Beliebtheit hält sich in Grenzen, aber immerhin hat knapp die Hälfte aller deutschen Haushalte einen Riester-Vertrag. Im Gegensatz zur gesetzlichen Rente müssen die Rentenleistungen hier durch Eigenbeiträge finanziert werden: Wer riestert, zahlt selbst ein und kann das Ersparte später wieder abheben. Das entlastet die jüngere Generation, was Hauptzweck der Schaffung dieses Instruments der Altersvorsorge war - und nicht etwa die Einführung neoliberaler Verhältnisse. Ganz im Gegenteil ist die Riester-Rente hoch reguliert. Sie bietet zudem eine Bestandsgarantie und Sicherheiten, wie sie auf einem neoliberalen Kapitalmarkt nicht zu erhalten wären.

Element Nummer 4 ist schließlich die steuerfinanzierte Grundsicherung, die es verhindert, dass ältere Menschen unter die Armutsgrenze fallen. Bewusst wurden deren Leistungen um rund ein Sechstel höher angesetzt als die der allgemeinen Sozialhilfe, da ältere Menschen kaum eine Chance mehr haben, ihre Einkommenssituation zu verbessern.
Dieses vielschichtige, sozial ausgewogene und klug gestaltete Gebäude wieder einzureißen, weil Panik unter den Wahlkämpfern ausgebrochen ist, ist unsozial und verantwortungslos. Am gefährlichsten ist die euphemistisch als „Stabilisierung des Rentenniveaus“ angedachte Abschaffung des Nachhaltigkeitsfaktors, dem ersten Reformelement, weil dies die finanzielle Nachhaltigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung enorm beeinträchtigen und die ausgewogene Lastenverteilung zwischen den Generationen beenden würde. Der Beitragssatz im Jahr 2040 läge rund 4 Prozentpunkte höher, und die jüngere Generation müsste die gesamte demographische Last tragen. Zudem bedeuten um einen Punkt höhere Sozialabgaben erfahrungsgemäß etwa 100.000 verlorene Arbeitsplätze. Damit schrumpfte die Beschäftigungsbasis, die zur Finanzierung der Rente so wichtig ist, um 400.000 Stellen.

Diese Zahlen sind den Wirtschafts- und Sozialministerien in Bund und Ländern bekannt. Sie bedürfen jedoch eigentlich keiner aufwendigen Prognoserechnung, sondern nur einer Rückschau darauf, wo wir schon gewesen sind: Durch eine Rückabwicklung der Nachhaltigkeitsreformen würden wir wieder bei der fehlenden demographischen Nachhaltigkeit und der schlechten Beschäftigungslage Ende der neunziger Jahre landen. Zudem wäre die Stabilisierung des Rentenniveaus als Mittel gegen Altersarmut nicht nur unmäßig teuer, sondern auch wenig hilfreich, da es den am meisten Altersarmutsgefährdeten vor allem an Erwerbszeiten mangelt.

Das zweite Element, die Rente mit 67, wurde in seiner Auswirkung von Union und SPD schon durch die „Rente mit 63“ geschmälert. Der Finanzierungsdruck ist durch die Rente mit 63 um knapp einen halben Beitragspunkt angestiegen. Wenn nun über die Rente mit 70 geredet wird, hört sich dies erst einmal absurd an. Die rechnerische und rhetorische Logik besteht jedoch darin, dass ein solch hohes Rentenalter nötig wäre, um die finanziellen Folgen der Abschaffung des Nachhaltigkeitsfaktors wieder auszugleichen, wenn man die Rentenbeiträge nicht um die besagten 4 Prozentpunkte anheben möchte.

Natürlicher wäre es, das Regelrentenalter an die Lebenserwartung anzuknüpfen und gleichzeitig eine wesentlich flexiblere Renteneintrittsregelung einzuführen, die der Vielfalt der Lebenswünsche und -umstände entgegenkommt, einen gleitenden Übergang in den Ruhestand und den gleichzeitigen Bezug von Arbeits- und Renteneinkommen ermöglicht. Eine solche Flexi-Rente bedarf allerdings einer Anhebung der Zu- und Abschläge bei späterem oder früherem Renteneintritt, weil ansonsten die Flexibilisierung nur einseitig wirkt und einen früheren Rentenbezug auslöst, nach dem dann weitergearbeitet wird. Dies fördert zwar die Beschäftigung, schmälert aber die Rentenkasse. Eine Anhebung der Zu- und Abschläge bedingt wiederum einen Ausbau der Erwerbsminderungsrenten, um denjenigen zu helfen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten können.

Die Riester-Rente, das 2001 eingeführte dritte Reformelement, hat in der Tat viele Mängel. Diese Säule jedoch als „gescheitert“ zu erklären, sie komplett abzuschaffen und wieder in das Umlageverfahren der gesetzlichen Rentenversicherung zu überführen, verlagerte die Finanzierungslast von der Babyboom-Generation wieder auf ihre Kinder. Reformbedürftig sind die Modalitäten der Riesterrente: ihre unsägliche Intransparenz, die den Wettbewerb aushebelt, und die nicht sachgerechten Anlagevorschriften, welche die Erträge des gesparten Kapitals reduzieren.
Seit langem wird eine kurze und allgemeinverständliche Zusammenfassung der Beitrags- und Ertragslage aller Altersvorsorgeprodukte gefordert, so dass ein Haushalt auf einen Blick vergleichend feststellen kann, wie viel Alterseinkommen seine gesetzliche, betriebliche und private Altersvorsorge einzeln und insgesamt bereitstellen werden. Sinnvoll wäre auch die Einführung einer sehr begrenzten Zahl zwischen Riester- und Betriebsrente angelagerter kapitalgedeckter Standardprodukte. Diese würden zum einen die Intransparenz in der privaten Altersvorsorge weiter verringern, zum anderen könnten sie als Betriebsrente kleiner und mittlerer Unternehmen dienen.
Von einer weitergehenden Förderung der Privat- und Betriebsrenten ist dagegen Abstand zu nehmen, denn sie schadet der finanziellen Nachhaltigkeit. Das eigentliche Problem ist die unnötige Komplexität der Produkte und deren Beschreibungen, die durch Fehlregulation der Regierung und Marktmacht der Anbieter herbeigeführt wurde. Ein modernes Finanzprodukt ist komplex, aber nicht komplexer als ein modernes Auto, bei dem die Hersteller es auch verstehen, die Attraktivität in wenige entscheidende Parameter zu fassen.
Wie wir schmerzlich erfahren haben, ist auch hier der Staat gefordert, um nachzuprüfen, ob die Abgaswerte stimmen. Ähnliches brauchen wir wohl auch flächendeckend in den Privat- und Betriebsrenten. Unnötig komplex sind auch die Regeln, wer mit wie viel gefördert wird. Erschreckend ist die Tatsache, dass mehr als die Hälfte derjenigen, die glauben, keine Riester-Förderung erhalten zu können, tatsächlich aber förderberechtigt sind.
Trotz all dieser Schwierigkeiten ist die Riester-Rente nicht gescheitert, denn fast die Hälfte der Haushalte besitzt ja einen Riester-Vertrag. Das Glas ist halbvoll, und man könnte mit einer besseren Ausgestaltung vermutlich mehr erreichen. Sie abzuschaffen hieße, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Es stimmt auch nicht, dass die Riester-Rente nur den Besserverdienenden nutzt, denn selbst im untersten Einkommensfünftel hat gut ein Viertel der Haushalte eine Riester-Rente. Dass es nicht mehr sind, liegt auch an der systemfeindlichen und kontraproduktiven Anrechnung eigener Rentenleistungen, insbesondere einer Riester-Rente, bei der Grundsicherung. Sie führt dazu, dass Haushalte, die glauben, sie könnten einmal in die Situation kommen, die Grundsicherung beantragen zu müssen, erst gar nicht anfangen, selbst zu sparen. Hier besteht Reformbedarf.

Auch die Betriebsrente könnte Innovationen vertragen. Deren Leistungsfähigkeit fällt sehr unterschiedlich aus; ihre Zersplitterung ist wenig effizient. Einige Großunternehmen und Branchen haben vorbildliche Betriebsrenten, die eine eigene Riester-Rente überflüssig machen - ein wichtiger Punkt, um das nur halbvolle Glas bei der Riester-Rente zu erklären. In anderen Branchen und vielen kleinen Unternehmen gibt es kaum Angebote. Einige vor allem kleine und mittlere Betriebe haben Eigenlösungen gebastelt, die schlicht ineffizient sind - Betriebsrentensysteme brauchen eine gewisse Mindestgröße.
Schließlich sind Betriebs- und Privatrenten zu wenig integriert, was man durch die bereits erwähnten von beiden Säulen nutzbare Standardprodukte verbessern könnte. Zudem böten sich betriebs- und privatrentenrechtliche Mischlösungen (wie die amerikanische „401k“-Rente) auch in Deutschland an, um den Menschen, die wenig über Finanzprodukte wissen, eine einzige, einfache und effizient verwaltete Ergänzung zur gesetzlichen Rente zu bieten, also eine verbundene zweite und dritte Säule.

Diese vielen Detailprobleme zeigen, dass die von CSU und SPD propagierte pauschale Zielsetzung „Stabilisierung des Rentenniveaus“ und „Abschaffung der Riester-Rente“ von den eigentlichen Problemen der Alterssicherung in Deutschland ablenkt. Dazu gehört nicht nur die mangelnde Transparenz der Riester- und Betriebsrenten, sondern auch das Problem der Altersarmut. Dies ist insofern ironisch, als die jüngste Rentenaufgeregtheit ja erst durch eine grotesk falsche vom WDR publizierte Prognose, die 50 Prozent Altersarmut vorhersagte, in Fahrt gekommen ist.
Auch hier der Reihe nach. Das vierte, zusammen mit der Riesterrente 2001 eingeführte, Reformelement war die Grundsicherung im Alter, die seitdem absolute Armut verhindert. Wir haben zum Glück derzeit kein sehr großes Armutsproblem unter älteren Menschen, da nur etwa 3 Prozent der über 65-jährigen Grundsicherung beziehen. Natürlich ist jeder Mensch, der auf die Grundsicherung angewiesen ist, ein Mensch zu viel. Man muss die 3 Prozent jedoch im Vergleich zur allgemeinen Armutsquote in Deutschland sehen, die bei rund 9 Prozent liegt. Besonders armutsgefährdet sind Erwerbsgeminderte, Solo-Selbständige, Langzeitarbeitslose, Menschen mit Migrationshintergrund und kinderreiche Familien. Hier gibt es Reformbedarf.
Man mag auch das Niveau der Grundsicherung und ihre von vielen als beschämend empfundene Verwaltung durch die Sozialämter kritisieren. Schon eine relativ geringe Erhöhung des Satzes würde vielen Menschen helfen, die zwar nicht arm sind, aber unterhalb der Armutsgefährdungsgrenze liegen, obwohl sie viele Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt haben. Dies wäre eine deutlich zielführendere Maßnahme als die geplante „Lebensleistungsrente“ und erst recht als die Abschaffung des Nachhaltigkeitsfaktors.
Ob die Altersarmut auch in Zukunft so niedrig liegen wird, ist zweifelhaft. Die Zahl der Grundsicherungsempfänger, die älter als 65 Jahre sind, ist in den vergangenen Jahren sowohl anteilsmäßig als auch absolut gestiegen. Sie wird in der Zukunft eher noch weiter steigen, da unterbrochene Beitragshistorien in der gesetzlichen Rentenversicherung häufiger auftreten. Korrigiert man die groben Fehler der WDR-Prognose, wird die Altersarmut um 2030 nicht bei 50 Prozent, sondern eher bei 5 Prozent liegen, was aber immer noch eine bedrohliche Erhöhung um 60 Prozent ist. Der wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium prognostiziert in seinem pessimistischen Szenario sogar fast eine Verdopplung der Grundsicherungsempfänger von derzeit 3 Prozent auf 5,4 Prozent.
Nötig sind zielgerichtete Verbesserungen vor allem in der Erwerbsminderungsrente und für die Solo-Selbständigen sowie eine bessere Ausbildung und Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Migrationshintergrund. Dies kostet Geld, welches fehlen wird, wenn stattdessen die Steuern und Beiträge wegen der Abschaffung des Nachhaltigkeitsfaktors und der Rückeingliederung der Riester-Rente in die Umlagefinanzierung angehoben werden müssten. Hierin liegt die traurige Ironie der von den beiden Parteien angezettelten Generaldebatte, die „sozial“ in ihrem Namen führen. Nicht ohne Grund weigern sich beide Matadore, von der Finanzierung ihrer Ideen zu reden, und behandeln die Rentenleistungen, als würden sie wie Manna vom Himmel fallen.

Hier liegt der soziale Sprengstoff: Zusätzliche Rentenleistungen müssen von den Jüngeren finanziert werden. Das schränkt den Budgetspielraum ein und lenkt von den wirklichen Problemen wie einer stärker drohenden Altersarmut ab. Unter den Vorschlägen leiden daher ausgerechnet die Jüngeren und die Ärmeren. Ist das sozial? Und ist es ein Zufall, dass dies auch diejenigen sind, die kaum zur Wahl gehen oder es noch gar nicht dürfen? Der populistische Zynismus der von den beiden „S“-Parteien angezettelten Rentendebatte ist kaum zu überbieten.