Gerechtigkeit im Rentensystem | Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik - MPISOC
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Gerechtigkeit im Rentensystem

Eine privilegierte Behandlung bestimmter Per­sonen im System der sozialen Sicherheit bedarf einer Rechtfertigung, um dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung oder dem verfassungs­mäßigen Recht auf Gleichbehandlung zu ent­sprechen. Gesetzgeber haben häufig bestimmte Gruppen von Arbeitnehmer/innen mit besonderen Rentenleistungen ausgestattet, ihnen damit unter Ausschluss der anderen einen Vorteil verschafft und künftigen Generationen Rechte und Leistungen mit zweifelhaften rechtlichen Begründungen und sozioökonomischen Folgen hinterlassen. So gewähren die meisten Länder Arbeitnehmer/innen in stark belastenden oder gefährlichen Berufen besondere Leistungen mit der Begründung, diese für die Härten der Arbeit zu entschädigen, vor den Gefahren ihrer Arbeit zu schützen oder, was seltener vorkommt, Gleichheit und verhältnismäßige Gerechtigkeit zu verwirklichen. Insbesondere wurden differenzierte Leistungen als gerechte und angemessene Maßnahme vorgeschlagen, um der Tendenz entgegenzuwirken, das Renteneintrittsalter für Arbeitnehmer/innen anzuheben, was eine unverhältnismäßige Belastung für diejenigen darstellt, deren Gesundheit durch belastende oder gefährliche Arbeit beeinträchtigt wird. Diese Personen sind durch die derzeitige Verlagerung der Politik hin zu einer längeren Lebensarbeitszeit am meisten gefährdet.

Während in Italien und Frankreich durch die jüngsten Reformen ein vollwertiges System mit Sonderleistungen für diese Arbeitnehmer/innen eingeführt wurde, um gerechte Rechte zu schaffen, haben andere Länder wie Deutschland und Japan Sonderleistungen gekürzt, um ungerechte Privilegien zu beseitigen. In Brasilien, China und Russland wird der Norm, die es Arbeitnehmer/innen in beschwerlichen oder gefährlichen Berufen erlaubt, früher in Rente zu gehen, eine entscheidende soziale Funktion zugeschrieben, die bei allen Reformen in der jüngeren Vergangenheit nahezu unverändert geblieben ist. Die Spezifizierung der Funktionen, die eine solche differenzierte Behandlung in der Realität erfüllt, und ihre juristische Rechtfertigung sind nicht nur für die Rechtstheorie und die öffentliche Ordnung, sondern auch für die Verfassungsgerichtsbarkeit von Bedeutung. So hatte der französische Verfassungsrat darüber zu entscheiden, ob eine günstigere Behandlung von Arbeitnehmer/innen in belastenden oder gefährlichen Berufen gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt und ob deren Einführung durch den jüngsten Rentenreformvorschlag verfassungsgemäß ist. Der Rat vertrat die Auffassung, dass nicht nur arbeitsunfähige Arbeitnehmer/innen, sondern auch solche, die bei ihrer Arbeit Gefahren ausgesetzt sind, nicht in der gleichen Lage sind wie andere Arbeitnehmer/innen und daher grundsätzlich eine Sonderbehandlung erfahren können, ohne dass der Gleichheitsgrundsatz verletzt wird.

Dennoch bleiben zentrale Fragen offen. In welchen Bereichen unterscheiden sich die Arbeitnehmer/innen? Dies hängt, wie nachstehend erläutert, von dem Aufwand ab, den die Arbeitnehmer/innen gegenwärtig für ihre Arbeit tätigen, sowie von den Risiken, denen sie ausgesetzt sind: dem gegenwärtigen Risiko von Verletzungen und Unfällen sowie den künftigen Risiken von Arbeitsunfähigkeit, Krankheit sowie Minderung der Lebensqualität und -erwartung, die sich aus der Art der von ihnen ausgeübten Tätigkeit ergeben. Ob sich spezielle Rentenleistungen eignen, Arbeitnehmer/innen für Beeinträchtigungen zu entschädigen oder sie davor zu schützen, hängt von der Struktur des Marktes ab, in den sie eingreifen. Dieser bestimmt, inwieweit Beschäftigte bereits durch Lohnprämien eine Kompensation erhalten, ob und inwieweit sie darüber hinaus entschädigt werden müssen und ob es Zweige des Sozialversicherungssystems gibt, die bereits einen solchen Ausgleich bieten. Offen ist auch, zu welchen Kosten ihre Situation angeglichen werden sollte.  Von dieser Antwort hängt ab, inwieweit die Norm so ausgestaltet sein soll, dass sie belastenden und gefährlichen Arbeitsbedingungen entgegenwirkt, z.B. in indem sie den Arbeitgeber/innen Anreize bietet, in entsprechende Technologien zu investieren, und wer die Kosten für diese Sonderleistungen tragen soll. Letztlich ist die wichtigste Frage, die es zu klären gilt, welche Art von Gleichstellung, wenn überhaupt, wem und wann angeboten werden sollte. Die Antwort hierauf bestimmt, inwieweit das gesetzliche Rentenalter und die von Arbeitgeber/innen und Arbeitnehmer/innen zu zahlenden Beitragssätze je nach den Risiken einer Tätigkeit unterschiedlich sein sollten.

In diesem Projekt werden die Funktionen und die von Wissenschaftler/innen, Gerichten und Gesetzgebern vorgebrachten Rechtfertigungen für eine differenzierte und vorteilhafte Behandlung dieser Arbeitnehmer/innen unter Anwendung der Verhältnismäßigkeitsprüfung analysiert: Jede Rechtsnorm, die in ein Grundrecht wie das der Gleichbehandlung oder der Nichtdiskriminierung eingreift, muss rechtlich legitimiert sein. Dazu muss die Norm ein legitimes Ziel verfolgen; geeignet sein, dieses Ziel zu erreichen; und in dem Sinne notwendig sein, dass sie das am wenigsten eingreifende Mittel ist. Außerdem darf sie im Hinblick auf die Intensität des Eingriffs und seiner negativen Folgen einerseits und angesichts des verfolgten Ziels und seiner positiven Folgen andererseits nicht unverhältnismäßig sein.

Der Verhältnismäßigkeitstest ist ein geeignetes wissenschaftliches und gerichtliches Instrument, das weltweit zur Bewältigung von Rechts- und Interessenskonflikten eingesetzt wird, da es die kausale Wirkung von Rechtsnormen berücksichtigt. Er hat die Effizienz und Optimierung des Mitteleinsatzes zum Ziel und berücksichtigt, was faktisch möglich ist. Hat die Norm schließlich ein legitimes Ziel, ist sie geeignet, dieses Ziel zu erreichen, und ist sie dafür notwendig, dann verlangt der Test im letzten Schritt eine empirische Bewertung der Beeinträchtigung jedes der widerstreitenden Interessen.     

Diese Studie verknüpft die ökonomische Analyse mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und analysiert vor diesem Hintergrund die Eignung und Notwendigkeit der Norm, verschiedene mögliche Ziele zu erreichen und die Funktionen zu erfüllen, die ihr von Wissenschaftler/innen unterstellt werden. Die Norm wirkt nicht im luftleeren Raum, sondern auf dem Arbeitsmarkt, und wird sich auf systematische und vorhersehbare Weise auf das Gleichgewicht der Löhne und das Beschäftigungsniveau in verschiedenen Sektoren auswirken. Sie kommt nicht nur den Arbeitnehmer/innen zugute, die Anspruch auf eine günstigere Behandlung haben, sondern bei einer vollständigen oder partiellen Subventionierung auch den Arbeitgeber/innen, die sie einstellen. Auf diese Weise fördert die Norm oft genau die Art von belastenden und gefährlichen Arbeitsplätzen, die sie zu kompensieren oder zu verhindern versucht.

Die Ergebnisse geben Aufschluss darüber, warum die Norm, die besondere Rentenleistungen vorsieht, besteht und wie diese Leistungen gestaltet sein sollten, um legitime Ziele zu erreichen. Indem die negativen Folgen der Norm aufgezeigt und mit alternativen Politiken verglichen werden, zeigt das Projekt auch auf, wann eine Sonderbehandlung durch alternative Politiken ersetzt werden könnte und sollte und worin die größten Gefahren für ihre Umsetzung und damit für die Erreichung legitimer rechtlicher Ziele bestehen.

Darüber hinaus zeigt die Analyse, dass die Norm nicht geeignet ist, Ausgleich und Prävention gleichzeitig zu erreichen. Welches der beiden Ziele gefördert wird, hängt entscheidend davon ab, wer für die Leistung bezahlt. Die Norm ist nur in sehr seltenen und spezifischen Fällen notwendig, um Arbeitnehmer/innen zu entschädigen oder zu schützen, und selbst in diesen Fällen steht sie streng genommen nicht in einem angemessenen Verhältnis zu den negativen Folgen, die sie für die Wirtschaft hat. Letztlich liegt die Rechtfertigung für die Norm im Gebot der Gleichbehandlung und in der Notwendigkeit, bei der Festlegung von Steuern und Leistungen, die Gruppen von Arbeitnehmer/innen zahlen und aus dem System der sozialen Sicherheit erhalten, Ungleiche nach dem Maß ihrer Ungleichheit ungleich zu behandeln.

Ansprechpartner
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Sergio Rubens Mittlaender Leme de Souza, Ph. D.